Täglich schuften, sauber liefern – und am Ende fehlt Geld in der Schlussrechnung. In öffentlichen Projekten ist das kein Zufall, sondern System: Mengen weichen ab, Positionen werden gekürzt oder gestrichen, Einheiten verschieben sich in andere Lose. Wer Mindermengen nach VOB/B nicht positionsscharf auswertet und abrechnet, verschenkt Marge. Der Hebel liegt in § 2 Abs. 3 VOB/B: unter 90 % und über 110 % führen zur Preisfortschreibung – nach oben wie nach unten, aber immer positionsbezogen. Mit Methode werden aus stillen Verlusten prüffähige Forderungen.
Was VOB/B § 2 (3) praktisch bedeutet
- Mengen < 90 %: Anspruch auf Anpassung des Einheitspreises wegen fehlender Kostendegression/Deckungsbeitragseinbußen.
- Mengen > 110 %: Anspruch auf neue Preisbildung für den Mehrmengenanteil (zusätzlicher Aufwand, Rüst- und Taktverluste, Logistik).
- Mischfälle (mal mehr, mal weniger): positionsweise bewerten, nicht mit der Gesamtsumme glattziehen.
- Öffentliche Auftraggeber: verlangen prüffähige Herleitung (Urkalkulation/Ansatzkette, Zeit-/Geräteansätze, Zuschläge).
Diese Zahlen sind keine Ausnahme, sondern der Normalfall, wenn Stillstände nur „informell“ laufen. Die Mechanik dahinter ist simpel: Kosten laufen, Erlöse pausieren. Wer das nicht systematisch dokumentiert, bezahlt den Stillstand bar – täglich.
Warum öffentliche Projekte besonders kritisch sind
- Aufmaßdisziplin: REB-konform, nachvollziehbar, dokumentiert – jede Abweichung wird geprüft.
- Vergabe-/Haushaltsrecht: keine „Goodwill“-Zahlungen; nur sauber begründete Ansprüche werden angeordnet.
- Schnittstellenrisiko: Planänderungen, Umplanungen und Losgrenzen erzeugen schnell Mengenverschiebungen.
- Dokumentationslast: ohne klare Herleitung aus Urkalkulation + Ausführung entsteht kein Zahlungsfluss.
Übersetzt: Je besser die Systematik, desto schneller die Anerkennung – und desto geringer der Streitanteil.
System statt Bauchgefühl: Der 6-Schritte-Prozess
1) Daten ziehen
- Leistungsübersicht/LV (vergebene Positionen), aktuelle Planstände, Aufmaßblätter (REB), Nachtragsliste.
- Zeitachse: wann wurde was geändert/gestrichen/verschoben?
2) Mengensaldo je Position bilden
- Vergabenmenge vs. Schlussaufmaß.
- Ampel: < 90 % (rot), 90–110 % (grün), > 110 % (orange).
- Mischfälle je Position ausweisen (nicht zusammenwerfen).
3) Kalkulationsbasis sichern
- Urkalkulation/Ansatzkette: Lohnminuten je Einheit, Gerätestunden, Material, BGK/AGK, Wagnis & Gewinn.
- Bei fehlender Urkalkulation: Bausteinpreise (Standardzeiten + Gerätesätze) als Sekundärnachweis dokumentieren.
4) Preisfortschreibung ableiten
- < 90 %: Einheitspreisverlust begründen (fehlende Serien-/Rüstvorteile, Fixkostenanteile, BE-Vorhaltung).
- > 110 %: Mehrmengenanteil mit neuem EP (zusätzliche Rüst-/Logistikzeiten, Engpassgeräte, Taktbruch).
- Mischpositionen: Basismenge 90–110 % belassen, Unter- und Überanteile separat fortschreiben.
5) Prüffähige Unterlagen erstellen
- Positionstabelle mit: LV-Nr., Kurztext, Vergabenmenge, Schlussmenge, Abweichung, Berechnung alter/neuer EP, Begründungssatz.
- Anlagen: Urkalk-Auszug, Zeit-/Gerätenachweise (typisiert), Plan-/Protokollhinweise.
6) Forderung stellen – nicht bitten
- Schriftlich mit Frist: „Preisfortschreibung gem. VOB/B § 2 (3)“.
- Teilweise im Abschlag (rollierend), Rest in der Schlussrechnung.
- Einwände positionsweise entkräften (keine „Gesamtnetto“-Diskussion zulassen).
Die Kernbotschaft: Anzeigen ohne Abrechnung bringen nichts. Dokumentation und Anspruchsstellung sind die einzige Versicherung gegen Liquiditätsabfluss.
So sieht prüffähige Begründung aus (Formulierungshilfen)
a) Unter 90 % – Verlust der Kostendegression
„Bei LV-Pos. 2.15 wurde statt 1.000 m nur 740 m ausgeführt (74 %). Die kalkulierte Serienleistung und die Verteilung der Rüst-/Fixkosten (BE-Vorhaltung, Gerätebereitstellung, Kolonnenanfahrt) sind nicht erreicht. Der Einheitspreis ist daher gem. § 2 (3) neu zu bestimmen. Herleitung siehe Anlage: Lohnmin. 6,4 min/m, Geräteeinsatz 0,08 h/100 m, BGK/AGK-Anteil reduziert nicht linear.“
b) Über 110 % – neuer EP für den Mehrmengenanteil
„LV-Pos. 4.31: 1.000 Stk. → 1.320 Stk. (132 %). Der Mehrmengenanteil von 220 Stk. ist mit neuem EP anzusetzen. Zusätzlicher Aufwand: Taktunterbrechungen in Abschnitten C/D, zusätzliche Zwischenlagerung, Engpassgerät (Scherenbühne) mit Mindestabnahme. Zeit- und Gerätekalkulation siehe Anlage.“
c) Mischfall
„LV-Pos. 5.10: Schlussmenge 88 % (Untermenge) bei Teilbereich A; Teilbereich B +15 % (Mehrmenge). Bewertung positionsgleich, aber anteilig: Untermenge A mit EP-Anhebung, Mehrmenge B mit EP-Neubildung; Basismenge unverändert.“
Jetzt unseren Podcast hören
Kleine Rechenbeispiele (vereinfachte Logik)
- Untermenge: EP vergeben 25,00 €/m. Schlussmenge 74 % → höhere Stückkosten je m, weil BE/Anfahrt/Rüstzeiten nicht skalieren. Neuer EP (hergeleitet) 29,40 €/m. Differenz 4,40 €/m × ausgeführte 740 m = 3.256 € zusätzlich.
- • Übermenge: EP vergeben 18,00 €/Stk. Mehrmengenanteil 220 Stk. mit zusätzlichem Rüst-/Logistikaufwand → neuer EP 20,60 €/Stk. Zusatzerlös 2,60 € × 220 Stk. = 572 €.
- • Mischfall: Basismenge bleibt 18,00 €/Stk., Unter- und Überanteil separat bewertet → sichtbare, prüffähige Salden.
Ziel ist Transparenz: Position für Position, nicht „Glattzug“ auf Summenebene.
Typische Einwände – und die passende Antwort
- „In Summe passt’s doch.“ → VOB/B bewertet positionsbezogen, nicht nach Gesamtnetto. Eine Mehrmenge in Pos. A darf nicht den Verlust aus Pos. B neutralisieren.
- „Ihr hättet günstiger einkaufen können.“ → Es geht um Herstellkosten, nicht Einkaufslotterie. Fixkosten und Rüstzeiten verhalten sich nicht linear.
- „Kein Bautagebuch, kein Anspruch.“ → Für § 2 (3) ist das Aufmaß entscheidend. Bautagebuch hilft, ist aber nicht Anspruchsvoraussetzung.
- „Zu spät vorgebracht.“ → Preisfortschreibung gehört in den Abschlag oder spätestens in die Schlussrechnung; Verjährung regelmäßig 3 Jahre (vertragsspezifisch prüfen).
Ablaufplan für die Schlussrechnung (öffentliche Auftraggeber)
- Positionsliste mit Ampel ( < 90 %, 90–110 %, > 110 %).
- Anlage Kalkulationslogik (Urkalk/Ansatzkette bzw. Bausteinzeiten + Gerätesätze).
- Fortschreibungsblatt je Position (Zahlen + Begründungssatz).
- Deckblatt: Summe Unter-/Übermengen, ohne Verrechnung auf Gesamtlos.
- Fristsetzung zur Zahlung/Einwendung (z. B. 14 Kalendertage).
- Rollierende Strategie: was der Abschlag nicht löst, geht in die Schlussrechnung – sauber getrennt.
Mindset: Vom „passt schon“ zur Marge mit Methode
Mindermengen sind kein Schicksal, sondern Rechenarbeit. Wer die VOB/B-Logik konsequent anwendet, holt Geld zurück, das längst „still“ verloren ist. Entscheidend ist Konsequenz: Aufmaß ernst nehmen, Positionen sauber fortschreiben, Forderung stellen. Öffentliche Auftraggeber erwarten Prüffähigkeit – liefern lässt sich das mit einer strukturierten Mappe in wenigen Stunden, wenn die Bausteine stehen.
Fazit
Mindermengen nach VOB/B sind keine Randnotiz – sie sind ein Ergebnishebel. Wer positionsweise rechnet, sauber begründet und konsequent einfordert, verwandelt stille Verluste in prüffähige Erlöse. Öffentliche Projekte zahlen diszipliniert – wenn die Unterlagen stimmen. Ab heute gilt: Scannen, fortschreiben, fordern.
Jetzt die letzten fünf öffentlichen Projekte auf < 90 % und > 110 % scannen. Pro Position entscheiden, fortschreiben, einreichen – ohne Gesamtsummen-Tricks. Wer System und Vorlagen braucht: Prozesse, Zeit-/Gerätebausteine und Musterschreiben aufbereiten, damit Mindermengen künftig automatisch Geld bringen statt Marge zu fressen.
FAQ
Können Mindermengen auch noch nach bezahlter Schlussrechnung geltend gemacht werden?
Ja, grundsätzlich innerhalb der regelmäßigen Verjährungsfrist (oft 3 Jahre ab Schlussrechnung/Abnahme; Vertragslage prüfen). Maßgeblich ist die positionsbezogene Abweichung nach § 2 (3) – nicht, ob die Gesamtsumme „in etwa“ passt. Entscheidend: Aufmaß, Vergabemenge, Schlussmenge, nachvollziehbare Preisfortschreibung.
Braucht es für § 2 (3) ein lückenloses Bautagebuch?
Hilfreich, aber nicht zwingend. Für Mindermengen/Mehrmengen ist das Aufmaß der Kernnachweis. Ergänzend stützen Urkalkulationsauszüge, Zeit-/Gerätesätze und BE-/Logistikannahmen die Preisfortschreibung. Ohne Aufmaß keine belastbare Abweichung – darum zuerst Mengen sauber stellen.
Darf der Auftraggeber Über- und Mindermengen einfach verrechnen („in Summe passt’s“)?
Nein. Die VOB/B verlangt positionsweise Betrachtung. Ein Mehrerlös in Pos. A darf nicht automatisch den Degressionsverlust in Pos. B neutralisieren. Mischfälle werden anteilig innerhalb derselben Position bewertet (Basis-, Unter-, Überanteil) – nicht quer über das LV.
Was tun, wenn die Urkalkulation nicht mehr auffindbar ist?
Mit Bausteinpreisen arbeiten: Standard-Zeitansätze je Einheit, Gerätestundensätze, Material- und Zuschlagslogik (BGK/AGK, W&G) dokumentieren und als Sekundärherleitung beilegen. Wichtig ist die Plausibilität (vergleichbare Positionen, identische Kolonnenmodelle). So entsteht Prüffähigkeit auch ohne Originalurkalkula.